Bürgerversammlungen und -gremien gibt es seit den Anfängen der Demokratie. In letzter Zeit haben sie als wirksames Mittel zur Beilegung polarisierter Debatten und zur Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens in die demokratischen Institutionen an Bedeutung gewonnen. 

Versammlungen der Bürger fanden schon im antiken Griechenland statt. Dort waren sie eingeführt worden, um den Einwohnern ein Mitspracherecht bei Entscheidungen zu geben und durch Deliberation zu einem Konsens zu finden. Die Regeln haben sich seitdem zwar deutlich weiterentwickelt –  heute werden bspw. Frauen und nicht-männliche Gemeinschaftsmitglieder nicht mehr von der Diskussion ausgeschlossen,  aber der Hauptzweck ist derselbe geblieben: eine eingehende Debatte zwischen einer zufällig ausgewählten Gruppe von Menschen zu ermöglichen und die öffentliche Entscheidungsfindung zu unterstützen.

Warum sind Bürgerversammlungen heute so wichtig?

Als Reaktion auf die vielen globalen Veränderungen und Umwälzungen, mit denen unsere Welt konfrontiert ist, spaltet sich unsere Gesellschaft immer stärker. Das Vertrauen der Öffentlichkeit in das demokratische System und seine Institutionen nimmt ab. Hitzige Debatten, scheinbar unvereinbare Gegensätze, bröckelnde Kollektivwerte. All das zieht Risse durch die Gemeinschaft(en) –  in Folge wachsen Gefühle der Entfremdung und Unzufriedenheit. Bei einer Befragung im Frühjahr 2021 gaben rund 45 Prozent der Befragten in Deutschland an, der Regierung eher nicht zu vertrauen. (Quelle: Statistische Bundesamt) 
Ähnliches zeigt die Studie der Friedrich Ebert Stiftung zusammen mit der Universität Bonn aus dem Jahr 2019:

Aus der Studie Vertrauen in Demokratie – Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik? der Friedrich-Ebert-Stiftung

Wenn wir die Skepsis gegenüber unserer demokratischen Systeme abbauen und stattdessen Fortschritte bei der Bewältigung kollektiver Herausforderungen erzielen wollen, müssen wir eine gemeinsame Basis finden. Die Einbindung von Gemeinschaften in Bürger:innenversammlungen kann dazu beitragen, die Kluft zu überbrücken, indem ein gesunder Austausch von Ideen und Perspektiven gefördert wird und diese Ideen bei der Ausarbeitung und Umsetzung öffentlicher Maßnahmen berücksichtigt werden. Bürger:innenversammlungen und -gremien sind besonders effektiv, wenn es darum geht, die Kommunikation zwischen Gruppen und die Erkundung gemeinsamer Interessen zu fördern und gleichzeitig eine Kultur der Inklusion, der Vielfalt und des Respekts zu unterstützen. Genau deshalb sind sie so gut geeignet, um heikle und brisante Debatten anzusprechen.

Zu den wichtigsten Vorteilen zählen unter anderem:

  • Anregung gesunder und konstruktiver Gespräche und Diskussionen über sensible Themen; 
  • den Teilnehmenden helfen, die Komplexität und die Kompromisse in politischen Dilemmas nachzuvollziehen;
  • Mitglieder der Gemeinschaft können schwierige Fragen angehen, ohne sich um Sorgen wie Wiederwahl kümmern zu müssen;
  • Erfindung innovativer Lösungen durch Schwarmintelligenz;
  • Stärkung des demokratischen Gefüges der lokalen Gemeinschaften.

Wie laufen Bürgerversammlungen oder -gremien ab?

Zunächst einmal sind Größe und Dauer einer Bürger:innenversammlung nicht festgelegt, sondern ergeben sich aus Faktoren wie  Gemeindegröße oder Anzahl der zu behandelnden Themen. Eine Bürger:innenversammlung besteht in der Regel aus 100 Personen oder mehr und dauert mindestens 18 Wochen, während ein Bürger:innengremium oder eine Jury in der Regel aus weniger als 50 Personen besteht und für einen kürzeren Zeitraum tagt. Sie als  Kommunalverwaltung legen Umfang, Schwerpunkt und das Hauptziel des Prozesses fest. 

Das Los entscheidet über die Zusammensetzung der Mitglieder einer Bürger:innenversammlung – oder eines Gremiums. Diese anfängliche und zufällige Auswahl wird anschließend weiter eingegrenzt auf eine kleinere Stichprobe von Teilnehmenden. Wichtig ist, dass sie die allgemeine Bevölkerung in Bezug auf Alter, ethnische Zugehörigkeit, Bildungsniveau, Wohnort und Geschlechtsidentität widerspiegelt. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass ein breites Spektrum an Standpunkten und Stimmen vertreten ist, einschließlich der von traditionell unterrepräsentierten Gemeinschaften. 

Bürger:innenversammlungen regen die Kommunikation zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen an. Damit entsteht nicht nur Wissen über gemeinsame Interessen. Diese Beteiligung fördert auch eine Kultur der Vielfalt, Inklusion und des Respekts.

Es liegt auf der Hand, dass die ausgewählten Mitglieder der Versammlung keine Expert:innen für das/die betreffende(n) Thema(en) sind. Deswegen ist es wichtig, dass sie alle Informationen und auch die Unterstützung erhalten, die nötig sind, um sich mit dem Thema vertraut zu machen und es aus allen Blickwinkeln betrachten zu können. Gute Ansätze können z.B. Treffen mit konkurrierenden Interessengruppen sein, oder die Anhörung Betroffener, selbstverständlich auch Fragerunden mit Expert:innen. Dieser Schritt ist entscheidend, um zu gewährleisten, dass alle Beteiligten auf Augenhöhe sind und die Argumente abwägen können, um zu einer unvoreingenommenen Entscheidung zu gelangen.

Die Bürgerversammlung in Aktion

Ein Beispiel aus London: Die Prioritätensetzung im Stadtteil Newham

Mit einer Einwohner:innenzahl von 300.000 ist Newham einer der größten und vielfältigsten Stadtbezirke der britischen Hauptstadt. In den letzten Jahren hat der Stadtteil mehrere Projekte zur Einbindung der Bevölkerung auf den Weg gebracht, darunter das sog. Queen’s Market Good Growth Programme, ein Projekt im Wert von 4,1 Millionen Pfund, das die Bewohner:innen in städtebauliche Entscheidungen einbezieht. Kürzlich hat die Verwaltung von Newham mit Bürger:innenversammlungen begonnen, um die Prioritäten des Viertels zu ermitteln und die erste ständige Bürger:innenversammlung in England auf der Grundlage von Wahlen einzurichten. 

Die Verwaltung von Newham entschied sich dafür, die Bürger:innenversammlung für alle zu öffnen, die im Bezirk leben, e Verwaltung von Newham entschied sich dafür, die Gemeindeversammlung für alle zu öffnen, die im Bezirk leben, arbeiten oder studieren und jedem zu erlauben, nach Belieben teilzunehmen. Außerdem wurden Arbeitsgruppen aus Bürger:innen, Stadträt:innen und lokalen Interessenvertreter:innen gebildet, die mit ihrem lokalen Wissen den Prozess beaufsichtigten und dafür sorgten, dass er den Bedürfnissen der Gemeinschaft wirklich gerecht wurde. Jetzt, wo die Newham Community Assembly-Initiative kurz vor dem Abschluss steht, wurden 82 Projekte (das sind in etwa zehn pro Stadtteil) ausgewählt, die sich in verschiedenen Stadien der Umsetzung befinden und Themen wie Gemeinschaftsgärten, grüne Autobahnen, Jugendprogramme, Sicherheitsinitiativen und Pop-up-Märkte in den Bezirk bringen.

Wenn Sie sich für den Newham-Fall interessieren, können Sie hier gerne die englischsprachige Fallstudie lesen.

Bürgerversammlungen und Gremien – ein Blick in die Welt

Ein paar Beispiele aus der Welt zeigen, wie Bürger:innenversammlungen die Entscheidungsfindung großer, sensibler Themen auf nationaler Ebene beeinflussen können. Denken wir an die Bürger:innenversammlungen in Irland in den Jahren 2014 und 2017, die zu einem Referendum über die gleichgeschlechtliche Ehe und zur Aufhebung des achten Zusatzartikels führten, der bis dahin Abtreibungen verbot. Diese beiden Verfassungsänderungen befassten sich mit national sensiblen Themen, denen Politiker:innen lange Zeit ausgewichen waren, und sie zeigen den potenziellen Einfluss, den Versammlungen auf tiefgreifende politische Debatten haben können.
In Frankreich berief Präsident Macron im Zuge der Gelbwesten-Bewegung und der weltweiten Jugend-Klimaproteste eine Bürger:innenversammlung zum Thema Klimaschutz ein, um eine gemeinsame Basis für Maßnahmen gegen den Klimawandel zu finden. In der deutschsprachigen Region Belgiens wurde ein ständiger Bürger:innenrat ins Leben gerufen, der es den Gemeinschaftsmitgliedern ermöglicht, Themen auf der Tagesordnung nach oben oder unten zu votieren.

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